Geschichtspolitik & Hilde Radusch

Menschen und deren Vielfalt an Lebenswegen in die  gesellschaftlich bekannten Formate von Geschichte einzubringen, das ist  Aufgabe von Geschichtspolitik.

Dass die weibliche Seite von Geschicht nicht vergessen wird, dafür benötigt es Akteurinnen wie mich, die mit ausgewiesener Expertise intervenieren und alternative Konzepte aufzeigen. Etwa:

Hilde Radusch (1903 – 1994) war Frauenrechtlerin, antifaschistische Widerstandskämpferin und streitbare Politikerin für die Akzeptanz lesbischer Frauen. Sie gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der lesbisch-schwulen Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts. 2012 wurde an ihrer letzten Wohnadresse der erste Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgten, lesbisch lebenden Frau eingeweiht. Der Gedenkort enstand nach einem über fünf Jahre währenden, politischen und wissenschaftskritischen Prozess und stellt eine queer-feminitische Antwort auf andronormative Gedenkpolitiken wie sie etwa beim sog. Homodenkmal bestimmend waren.

Berlin Schöneberg
Berlin Schöneberg (c) Annette Wittmann, Berlin

Ihr Grab ist auf dem St. Matthäus Kirchhof in Berlin/Schöneberg.

Zwanzig Jahre nach ihrem Begräbnis liefen die Nutzungsrechte für das Grab 2014 aus. Miss Marples Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort, Berlin/Mannheim-Heidelberg sicherten den rechtlichen Bestand des Grabes, indem die Fachhistorikerin Ilona Scheidle das Grab übernahm. Für die Pflege wurden Spenden gesammelt und mit Anja Kofbinger (Bündnis 90-Die Grünen) den politischen Weg eingeschlagen, damit das Grab zum Berliner Ehrengrab wird. Binnen nur zweier Jahre war die Initative erfolgreich:

Am Geburtstag Hilde Raduschs, am 6. November 2016, findet ab 15 Uhr die Feier zur Ehrengrabsteinverlegung auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof statt.

Wer da ist, sei herzlich eingeladen.

Und hier die Rede zur Einweihung des Gedenkortes Hilde Radusch 2012:

Rede am 22.6.2012 zur Einweihung des „Hilde Radusch Gedenkortes“

 

Werte Anwesende,
ich habe einen Brief mitgebracht, den ich an Hilde Radusch für heute geschrieben habe:

Liebe Hilde Radusch,

sitzt Du gerade auf „Wolke Sieben“ und gluckst pfiffig auf uns herunter? Ja, Wir, Miss Marples Schwestern, haben angestiftet, dass Du einen Gedenkort bekommst ‑ den ersten Berliner Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgte lesbische Frau.

Du fragst warum einen Gedenkort?

Der Gedenkort ist für Dich, die kein klassischer „Held“ noch moderne „Held_in“ war…die aber immer aktiv gewesen ist …die für VIP-Posten nicht passte, weil für Dich offenbar keine Schublade passt.  […]

Am Anfang unserer Initiative für Deinen Gedenkort war ein Reden und Zuhören. Urgesteine des Netzwerkes erzählten von Dir, der „heimatlosen Linken“, die stets auf Seiten der Schwachen für eine bessere Welt kämpfte: Ab dem Kaiserreich bist Du allen Niederlagen zum Trotze, eingetreten für Humanität und Gerechtigkeit in der Weimarer Republik, der NS-Zeit, auch in der Bundesrepublik, nach der Wende und hast als Feministin Dein Lebensmotto gelebt: Du warst „Nie Opfer, immer Kämpferin“.

Liebe Hilde, Dein Lebenswandel erweckt auch heute noch Menschen und ist Vorbild.

Unser Rundgang unter dem Motto „Stationen eines unangepassten Lesbenlebens“ – zeigt mit Deinem Lebensweg ein Beispiel, einer in der NS-Zeit verfolgten lesbischen Frau. Der Rundgang ist eine feministische Antwort auf eine andronormative Geschichtswissenschaft und plädiert dafür, einen Verfolgungsbegriff für die NS-Zeit zu etablieren, der mehr als Paragraphen wie den 175er erfasst. […]

Unser Reden, Forschen und Erinnern war stets vor Ort, in Schöneberg, Berlin-Mitte, Prieros… es war zirkulierend und es war performativ, meint kreativ:

Aus dem Rundgang, dem Auffordern und Einladen, unserem ‚vocatischem Reden’, wurde ein diskursives Ereignis mit institutionalisiertem Gedenkeffekt: An Dich sollte nicht nur punktuell erinnert, sondern offiziell gedacht werden. Darum gingen wir den politischen Weg, um ein öffentlich verantwortetes und dauerhaftes Erinnern zu erreichen. Mit Erfolg: Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin Schöneberg legitimierte konsensual an die Kommunistin und Lesbe zu gedenken. Spätestens damit haben wir die Symbolische Ordnung, wir haben das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft, um Deinen Lebensweg erweitert, indem wir Dein Leben mit uns in Beziehung setzten und mit Bedeutung versahen. Frauen zu vergessen ist gesellschaftlich nicht mehr konsensfähig, konsensfähig ist, dass Lesben zur NS-Gedenkformation, dem Nadelöhr deutscher Geschichtsbewusstheit, gehören. Gut so.

Deine Quellen im Nachlass sprechen ihre eigene Sprache. Tagebücher, die Du dein ganzes langes Leben lang geschrieben hast, selbst im Bunker (als Illegale, eine einzigartige Quelle!). Die Tagebücher, sie lassen in Dein Seelenleben direkt einblicken. Intim und ungeschützt schreibst du als Verliebte, kleidest die Freuden der Liebe auch als Siebzigjährige in Worte. Ungefiltert beschreibst Du als Widerständige und Verfolgte den NS-Terror. Schonungslos trittst Du Dir und der Welt entgegen, zeigst ungeschönt Deine Verletzlichkeit, wenn Du wegen Blasen- und anderen Altersschwächen auf keiner Frauen-Demo mehr mitmarschieren konntest. Ja, den Alterszerfall, den hast Du ebenso realistisch genau notiert, wie 1945 das langsame Krepieren, das Hungerdelirium in der Illegalität, die Alpträume der Verfolgung wie im Dezember 1939, als Du geschrieben hast: [Geliebte, I.S.]

„Jetzt sterbe ich. Bleib bei mir, ja? Bis die Männer kommen und mich abholen. Gib mir Rosen, rote Rosen. Bist Du bei mir? Du weinst ja? << Und wenn ich einst tot bin, sollst Du denken an mich. Des Abends, wenn Du einschläfst, aber weinen sollst Du nicht.>> Aber Du – ziehst mir kein Hemd an, nein? Meinen seidenen Pyjama, ja? Ich kann ja nicht bei Dir bleiben, ich bin ja tot.

Ich habe Dich immer lieb gehabt vom 1. Tage an, an dem ich Dich sah […] Augen auf: Wo bin ich? […] Bring mir Rosen, ja? rote Rosen – recht viele. Nun musst Du gehen, gleich kommen die Männer…“

Klare Verhältnisse, radikaler Humanismus und hemmungslose Liebe zum Leben waren Dein Anliegen, dafür hast Du gekämpft und bist marschiert. Die NS-Zeit hast du überlebt und sie schulte Dich. Auch nach dem Krieg warst Du noch lange Zeit mit gepackten Koffern vorbereitet gewesen, um jederzeit untertauchen zu können. Du warst Macherin und Kämpferin mit Wort und Schrift, warst eine verletzbare Agitatorin der Ersten und Zweiten Frauenbewegung, hemmungslos leidenschaftliche Demokratin mit dem „Mut zum Entschluss und der Stirn zu unterscheiden“, wie Du gedichtet hast.

Für all diese Facetten, die sich in keine Schublade einfügen vermögen, haben wir Miss Marples Schwestern, diesen „Gedenkort Hilde Radusch“. gemeinsam mit den Künstlerinnen gestaltet, und wir danken allen Spender_innen recht herzlich, die uns unterstützt haben – pekuniär, strukturell und ideell.

Ilona Christa Scheidle / Mannheim-Heidelberg

GEDICHTE – von Hilde Radusch

Ich habe zwei Gedichte aus den Tagebüchern von Hilde Radusch ausgewählt, die in ihrem Nachlass im FFBIZ liegen. Beide behandeln ihre Leidenschaften zu Frauen und Politik, ihr Begehren und ihre Solidarität mit den Opfern von Gewalt und Ungerechtigkeit. […]

Am 3.12.1983 schrieb Hilde Radusch: Jetzt ist es nach 11 Uhr und in Neukölln wird die lebenslustige Susanne Matthes beerdigt. Vor „Die 2“ um Mitternacht vergewaltigt und viehisch ermordet. Ich wollte hingehen, aber bei der Kälte und ich kann meine Blase nicht abstellen. Ich weiss, es werden tausende von den jungen Frauen da sein, die ohne Sorge um Gesundheit und Leben demonstrieren….

Susanne Matthes:
Wir kennen Dich nicht
und lieben Dich doch

Wir haben mit Dir
Getanzt und gelacht
Du bist uns so nah

Wie alle Frauen, die wir lieben.

Unter dem Dach der Nacht
Hat ein Mann Dich zertreten
Deine Scham verletzt
Dich für immer von uns genommen.

 Wir stehen und trauern
und sehen hilflos
dass die Hölle offen steht
und Gewalt regiert 

                                               Hilde Radusch

 Im Juli 1984 schrieb Hilde Radusch in ihr Tagebuch:

Christel ist tot… Nahm sich am 23. Juni 1984 das Leben. Heute … war die Beerdigung…. Was soll ich schreiben? Ich konnte ihr nicht helfen. ….Da liegt noch ein Gedicht von mir von 1980

Leise Liebe

 Hin und wieder
kommt sie nach Berlin
nur um mich zu küssen.

Junges Blut
mit jungem Sinn.

Meine alten Augen schwelgen
und das Herz lacht
und die Lippen fühlen innig
was sie tun.

Sie küssen zum kommen
und zum gehen
und zwischendurch
so leicht so flüchtig.

Und ich kann danach
nicht schlafen.

Sie machen satt
und hungrig
diese kleinen Küsse.

Dieser Gruss aus dem Leben.     

Hilde Radusch

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Anna Blum (1843 – 1917)

Dreizehn Jahre dauerte es, bis das Kulturamt Heidelberg im Jahre  2013 eine Erinnerungstafel im Standardprogramm für Stadtgeschichte für die erste Ehrenbürgerin an ihrem Haus anbrachte. Nur durch direkte Interventionen – auch im Rahmen bundesweiter geschichtspolitischer Aktionen für Frauen- und Geschlechtergeschichte – wurde die damalige Administration dazu bewegt, die Heidelberger Erinnerungskultur für solch eine Frauengeschichte zu öffnen. Heute kommt das Vermächtnis der Ehrenbürgerin Anna Blum, die ein Frauenaltersheim stiftete, dem Stadttheater zu gute.

 

HINEIN in die symbolische Ordnung – durch – frauen*stadtspaziergänge

 

Frauen*stadtspaziergänge fordern gesellschaftspolitische Teilhabe durch Sichtbarkeit von Frauen* in der Vergangenheit im Jetzt für Morgen.

Der Artikel erschien in:

An.Schläge. Das feministische Magazin, Oktober 2013, S. 30 – 31:

Schon in den 1970ern wurden im deutschsprachigen Raum die ersten Frauen*stadtspaziergänge initiiert. Mit der Erzählung von Frauen*Geschichte(n) intervenieren diese in herkömmliche Geschichtserzählungen. Von Ilona Scheidle

Schon Römer*innen spazierten durch Stadt, Land, Wald und Flur und erzählten sich dabei Geschichte(n), die ihnen wichtig waren. An manchen Orten verweilten sie, um ihr Erzählen und Zuhören zu bündeln, oder um eine Aussicht als Gruppe miteinander zu teilen.

Beschreibt dieser Kalauer Frauen*stadtspaziergänge? Gemeinsam ist beiden nur das Bild einer Frauen*gruppe, die ohne Zeitdruck lustvoll im öffentlichen Raum flaniert, laut lacht und einen thematisch anregenden Austausch untereinander pflegt. Während die Römer*innen auf ihren Wegen zweckfrei flanierten, versuchen Spaziergänge zur Frauen*geschichte durch das Spazierengehen gesellschaftlich zu intervenieren. Indem sie von marginalisierten Frauengeschichtsthemen wie etwa der Zwangssterilisation in der NS-Zeit erzählen, machen sie unsichtbare und ungehörte Geschichten von Unrecht sichtbar, greifen in tabuisiertes Gefüge von Schweigen ein, kritisieren es und wirken durch Aufklärung auf Veränderung wie Rehabilitierung, Entschädigung etc. hin.

Um die Kategorie Geschlecht in eine historische Repräsentation zu implementieren, kann Lucius Burckhardts Spaziergangswissenschaft für Stadtspaziergänge zur Frauen*geschichte methodisch herangezogen werden. Die „Strollology“ erläutert, dass Landschaft mittels kulturell tradierter Bilder wahrgenommen wird. Alle Proband*innen seiner Spaziergangsversuche berichteten davon, einen „Brunnen“ auf der Versuchsstrecke zur Landschaftswahrnehmung gesehen zu haben, obgleich hier keiner existiert hatte – jedoch war allen Proband*innen das Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ bekannt gewesen, so dass das musikalische Bild im Gedächtnis ein Erinnerungsbild hervorbrachte. In ähnlicher Weise ermöglicht wiederkehrendes Erzählen von Frauengeschichte(n) eigenständige Erzählstränge und Bilder im Erinnerungsvermögen zu entwickeln, die den gesellschaftlichen Diskurs verhandeln und schließlich zu gesellschaftlicher Realität generieren.

Spuren hinterlassen. Wie erfolgreich Frauen*stadtspaziergänge sind, zeigt das flächendeckende Angebot von Stadtführungen über Frauengeschichte. Ohne Frauengeschichte ist heute kein Tourismus mehr denkbar. Frauen*spaziergänge sind aber nicht an Urbanität gebunden, das zeigen die Beispiele Gorleben im Wendtland oder Kirchberg im Hunsrück. War in den 1970er-Jahren wichtig, „dass Frauengeschichte überhaupt erforscht und erzählt wird“, sind es nun mehr Fragen zum „Wie, Wer und Warum“ relevant.

Seit 1990 thematisieren Miss Marpels Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort das intervenierende Potenzial feministischer Geschichtsvermittlung durch Stadtrundgänge, die bewusst Regelbrüche (von welchen Regeldurchbrüchen ist die Rede?“ vornehmen, indem Themen benannt werden, die tabu sind, indem Wege gelaufen werden, die nicht zugänglich waren, indem Orte mit Dingen bestückt werden, die nicht vorgesehen waren – nicht angemeldete Erinnerungstafeln, privatisierte Plätze, die einmal öffentlich waren, …. Auf diese Weise provozieren Frauen*geschichtsspaziergänge Bewegung im öffentlichen Raum, sie wirken performativ, d.h. sie verändern Räume, Topografien und deren kollektive Wahrnehmung. Unzählig sind die Initiativen, Analysen und Aktionen, die zu Erinnerungstafeln, Straßennamen, Straßenkarten, Ortsbenennungen, Quellensicherungen, Graffitis, Publikationen, Wandmalereien, Kunstobjekten am Bau und dergleichen mehr, also zu sichtbaren Ergebnissen und Pilotstudien durch das Netzwerk führten. Ebenso beharrlich und variationsreich sind aber auch die Verhinderungsdynamiken, die einer Sichtbarkeit von Frauen, von Geschlechtern, deren Geschichte und gegen eine feministisch perspektivierte Geschichtsanalyse entgegentreten.

Universum von Geschichte(n). Beim Spazierengehen werden andere Sichtweisen auf Orte, Arbeiten, Organisationen und Menschen erzählt, die die öffentliche Auseinandersetzung darauf lenken. Dialog und Interaktion sind zentrale Methoden der Geschichtsvermittlung, die weniger auf Faktenvermittlung und Spektakel als auf Selbstreflexion setzt. Ungläubiges Nachfragen wie zum Beispiel „Gab es tatsächlich Hexenverbrennungen auch bei uns?“ signalisieren oft den Beginn eines solchen Prozesses.

Frauenspaziergänge berichten von tabuisierten Geschichte(n) wie Abtreibung, Sterilisation, Gewalt in der Familie, Ehe und ähnlichem. Doch zuvorderst vermitteln solche Spaziergänge ein Universum von Frauen*geschichte(n). Indem sie beharrlich wiederkehrend erzählt und gedruckt, gelesen und weitererzählt werden, vermögen sie selbst zu tradierbarer Erzählung zu werden und ins kollektive Gedächtnis eingehen. Meistens flankieren queer-feministische (Protest-)Maßnahmen einen erfolgreichen Prozess, damit Frauen*geschichte Teil der symbolischen Ordnung wird. Frauen*stadtspaziergänge fordern gesellschaftspolitische Teilhabe durch Sichtbarkeit von Frauen in der Vergangenheit im Jetzt für Morgen. Geschichte beliefert gesellschaftliche Selbstvergewisserung, Straßennamen und dergleichen markieren sichtbare Repräsentanz und signalisieren Herrschaft. In diesem Sinne flanieren Frauenstadtspaziergänge mit Frauen*geschichte(n) direkt in die symbolische Ordnung hinein.

Wegenetze. Doch zurück zu den Römer*innen: Sie liefen bei Prozessionen durch die Öffentlichkeit, bewegten sich in und außerhalb eines Hauswesens, wanderten von Stadt zu Stadt etc. Sie können mit ihren Bewegungen durchaus als Teil jenes Raumes verstanden werden, den der jesuitische Kulturanthropologe Michel Certeau so trefflich als ein „Geflecht von beweglichen Elementen“ beschrieben hatte, das „von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt ist, die sich in dem Geflecht entfalten.“

Doch was damit in den 1980ern geschlechtsneutral vorgestellt wurde, will für Frauen nun historisch bewiesen sein. Sicherlich, die Römer*innen nutzten das imperiale Wegenetz nicht nur für (Familien-)Arbeit, Handel, Bildungstransfer, Politik und dergleichen, sie entfalteten sich in diesem europäischen Geflecht leibhaftig durch ihre alltäglichen Denk/Handlungen, Emotionen und produzierten Materialien. Sie gestalteten den Raum und wandelten ihn in gesellschaftlich relevante Räume. Doch welche Geschichte(n) erzählten sie sich damals, und warum sind heute nahezu keine Geschichten, Quellen oder Monumente mehr von ihnen vorhanden oder über sie bekannt?

Listen der (Ohn-)Macht. Die Lücke an historischem Wissen über Frauen und deren Geschichte, über fehlende Tradierung von Frauengeschichte(n) erkannten die Akteurinnen der Neuen Frauenbewegung quasi seit ihren ersten Gehversuchen. Der Spinnboden, Lesbenarchiv und Bibliothek Berlin, feierte beispielsweise am 25. Mai diesen Jahres sein vierzig jähriges Gründungsfest. Bereits auf der ersten deutsche[IS4] n Sommeruniversität 1976 wurde die Leerstelle kritisiert und verändert: Frauen bewegten sich leibhaftig durch Berlin und gingen per Stadtrundgang auf Spurensuche nach Frauen und deren Geschichte. Es folgten die autonome Organisation und internationale Historikerinnentreffen (ab 1978). Fachdisziplinär gründeten sich eigenständige Frauenarchive und eigene Netzwerke wie i.d.a. oder Miss Marples Schwestern. Zunächst als Sammlung von Zeitungsausschnitten, die sich zu feministischen Systematiken, Frauen-Nachlasssammlungen, -bibliotheken und -museen weiterentwickelten. Erste „Listen“ von Frauen, Namen, Orten, Taten etc. wurden erstellt, die gähnende Leere galt es mit unbekannten Geschichten von Frauen als eigenständig handelnde Menschen zu füllen. Nicht nur Listen der Ohnmacht, auch jene der Macht, von Emanzipationskonzepten und dergleichen standen im Fokus. Kurzum: andere Themen als König, Kaiser, Arbeiter, Gewerkschafter, Intellektueller, Parteienproporz u.ä. waren im Blick.

Das Ziel war ambitioniert, galt es doch, die Menschheitsgeschichte neu zu schreiben. Dies gelang aber nicht: Trotz der unmessbaren Fülle an Ergebnissen und dem Engagement in den vergangenen vierzig Jahren, findet Frauen*Geschichte keinen Eingang in große Geschichtserzählungen. Auch Forderungen nach einer Geschlechtergeschichte, der Darstellung von Geschlechterverhältnissen, nach Ein- und Ausschlussmechanismen zur Teilhabe von Herrschaft und Macht verhallen noch immer ungehört an den Mehrheitslinien.

So bleiben Frauen*stadtspaziergänge aktuell, die nicht nur Wissen vermitteln und vernetzen, sondern manchmal direkt in die symbolische Ordnung hineinspazieren. Dies gelang der „Hilde Radusch Initiative“, die, nach fünf Jahren Rundgehens im Berliner Stadtteil Schöneberg, den ersten Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgte, lesbisch lebende Frau schaffen konnte. Der Spaziergang läuft jährlich zum 2. August und zum 6. November … Geschichtsfreund*innen sind herzlich eingeladen!

 

Ilona Scheidle ist Historikerin und Strollologin, sie leitet die Lesbisch-schwule Geschichtswerkstatt Heidelberg-Ludwigshafen-Mannheim (www.ilonascheidle.de) engagiert sich bei Miss Marples Schwestern – Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort/Heidelberg, Mannheim, Berlin und der Hilde Radusch Initiative (www.miss-marples.net/cms/website.php?id=projekte/data2529.htm).